Terra adventurarum
Die ungezähmte Natur des Haut Val de Bagnes
Während sich Verbier im goldenen Licht seines Amphitheaters sonnt, umspielt von den Sonaten der weltbesten Pianistinnen und Pianisten, ruht das Haut Val de Bagnes sanft im wohltuenden Schatten, erfrischt vom ewigen Gesang der Wildbäche. Ein unerwartet authentischer Fleck Erde, der uns das wahre Wesen der Berge näherbringt.
Das Tal verengt sich, die Strasse windet sich in Serpentinen den steilen Hang hinauf. Links und rechts stehen dicht meterhohe Tannen, im Unterholz wachsen Heidelbeeren. Eine Landschaft in ihrem Rohzustand: rau, ursprünglich und kraftvoll. Hier sind die Berge keine Kulisse. Sie sind lebendig, manchmal ungestüm, aber stets souverän.
Der Tag ist gerade angebrochen. In der Einsamkeit des frühen Sommermorgens herrscht Stille. Sie wird nur vom sporadischen Ruf früh aus dem Nest geflüchteter Vögel durchbrochen. Ab Fionnay (1491 m) steigt der Weg steil an, mit jedem Höhenmeter beschleunigt sich der Puls. Das Murmeln der Dranse, die in der Morgendämmerung friedlich dahinplätschert, wird langsam leiser. Bis zur Louvie-Hütte (2245 m) sind es noch rund zwei bis zweieinhalb Stunden.
Der Anstieg ist fordernd, exponiert und abschüssig. Er führt streckenweise über blanken Fels, bietet aber eine atemberaubende Aussicht. An ausgesetzten Stellen erleichtern Ketten den Aufstieg. Nach der Überquerung des Baches breitet sich unversehens eine blühende Alpweide aus. Inmitten dieses Blumenmeers, umgeben von einem felsigen Amphitheater liegt ein See. Morgens schimmert er tiefschwarz, mittags kippt er ins Türkis oder Smaragdgrün. Es ist noch immer still. Hin und wieder ertönt der warnende Pfiff eines Murmeltiers oder der Ruf eines Bartgeiers, dessen riesiger Schatten sich am blauen Himmel abzeichnet. Man hört auch das Rollen von Steinen unter den sicheren Tritten von Gämsen oder Steinböcken.
Zeit für eine Rast in der Berghütte. Ein paar Liegestühle im Gras warten auf Sonnenhungrige. Die Katze Chips schnurrt. Claudias bodenständige Gerichte wie Polenta, Fondue und Walliser Teller bringen jeden Wanderer wieder auf Trab. Sie geben Kraft für den Weiterweg zum Col Termin (2648 m) auf dem bekannten Sentier des Chamois nach Verbier. Hier öffnet sich der Blick auf Moränen, Gletscher und die glitzernden Gipfel des Grand Combin. Alles wirkt höher, schroffer, mächtiger. In dieser Landschaft der Superlative schlägt das Herz des Haut Val de Bagnes. Es lädt ein, sich auf das Wesentliche zu besinnen, sich mit Grösserem zu messen und das Gefühl auszukosten, ein unberührtes Stück Erde gefunden zu haben, das sich dem Zahn der Zeit entzieht. Wer dieses Gefühl noch intensiver erleben möchte, übernachtet in der Berghütte, ganz nah am Wind und den Sternen. Vielleicht sogar mit einer Sternschnuppe als Bettmümpfeli.

